Kapitel 3

Ein kalter, klarer Morgen an diesem 27. Februar 1981. In der Nacht hatte ich kaum geschlafen. An frühstücken war nicht zu denken. Mein Magen zog sich rhytmisch zusammen. Ich nahm Domenik aus dem Bett. Er lachte mich fröhhlich an. Schnell machte ich ihm noch sein Frühstück und nachdem er es mit großem Appetit gegessen hatte, zog ich ihn an. Seinen wunderschönen dunkelroten Pullover mit der dazupassenden altros Mütze. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, ob ein so wunderhübsches Kind behindert sein kann? Fast wäre ich nicht losgefahren. Hatte mich dann aber wieder im Griff, stieg ins Auto und fuhr mit ihm los.

Pünktlich erschienen wir im Institut und begaben uns ins Wartezimmer. Viele Mütter und Väter mit ihren Kindern waren anwesend. Ich fühlte mich willkommen und geborgen. Jedem war bewußt, warum wir hier saßen. Wir teilten dieselben Sorgen und Ängste. Trotz der zum Teil sehr schwer behinderten Kinder, die im Wartezimmer lagen, saßen, sich mühsam fortbewegten, war die Atmosphäre entspannt, ja sogar gelöst. Ich glaube, dass war das erste mal für mich, dass ich mich mit meinen Sorgen und Befürchtungen nicht allein fühlte. Aus allen Gesichtern war zu lesen: “Wir verstehen “.

Wir mußten nicht lange warten, da erschien eine sympathische Frau mit langen, dunkelblonden Haaren und rief uns auf. MIt Nike an der Hand, folgte ich ihr ins Untersuchungszimmer. Sie stellte einige Fragen zur Person, zum Geburtsverlauf und zu Domeniks Entwicklung . Beobachtete ihn dann sehr aufmerksam. Maß ihn, wog ihn und testete verschiedene Dinge. Zwischendurch immer wieder die eine oder andere Frage an mich. Ihr Gesicht sah sehr besorgt aus, ein Blick, der mich verunsicherte. Die Diagnose, CEREBRALE ATAXIE, mit einer sehr ungünstigen Prognose für die Zukunft. Wenig Hoffnung für eine normale Entwicklung. Vieles wird er nie lernen. Sein Weg wird hart und mühsam sein und er wird viel Hilfe und Unterstützung brauchen.

Die Ärztin gab mir einen Zettel mit, auf dem stand, welche zusätzlichen Wege ich noch beschreiten mußte, um das Bild abzurunden. Hörtest, Sehtest, Schichtaufnahmen von Domeniks Gehirn, EEG. Außerdem sollte die Krankengymnastik weitergeführt werden. Zu überlegen sei, ob anstatt Bobard eher die Voita-Therapie durchgeführt werden sollte. Auf jeden Fall noch zusätzlich Beschäftigungstherapie. Ich bekam einen neuen Kontrolltermin in 3 Monaten und sollte bis dahin die Untersuchungen abgeschlossen haben und mir Gedanken über die Therapieumstellung machen. Sie verabschiedete sich von mir und bat mich, bei der Anmeldung die einzelnen Überweisungsformulare abzuholen, mit der Bitte, in die Beratungsstelle des Hauses zu gehen. Hier legte man mir nahe, für meinen Sohn einen Behindertenausweis zu beantragen, da dieser sehr nützlich sein würde.

Das war es. Ein Schlag ins Genick. Die Einfühlsamkeit ließ zu wünschen übrig. Von vorsichtigem Vortasten und mir eine Möglichkeit der Hoffnung offen zu lassen, war hier nichts zu spüren. Was mutet man uns Eltern zu? Wir sind doch nicht aus Stein. In sekundenschnelle liefen die Bilder durch meinen Kopf. Lange verdrängt, jetzt aber deutlich sichtbar gemacht. Keine Chance auf ein normales Leben. Der Stempel für Domenik, die Enttäuschung für mich. Untauglich! Durchgefallen durch den Musterungstest. Das war es. Endgültüg. Ich kämpfte mit den Tränen. Warum geht man hier mit mir so schonungslos um? Gerade hier müßte man aus Erfahrung wissen, dass wir Eltern sehr empfindlich sind. Schon über viele Jahre angeschlagen, bedürfen wir einer behutsamen Behandlung. Wir sind die Pfeiler, auf die aufgebaut werden kann. Wenn man uns ankratzt, bricht alles zusammen. – Ich nahm Domenik und verließ das Gebäude wie ein ghetztes Tier. Rotz und Wasser heulend, stieg ich in Auto und fuhr los.

Sacha  war mit Freunden in Planten und Blomen zum Schlittschuhlaufen. Ich hatte versprochen, ihn auf dem Rückweg abzuholen. Als ich dort angekommen war, sah ich dem fröhlichen Treiben zu. Ich hielt meinen kleinen Frosch im Arm, ganz fest und dachte: Nie wird er Schlittschuh laufen, nie Rollschuh laufen, nie Dreirad, Roller oder Fahrrad fahren können. Oh Gott, was ist denn noch möglich, was bleibt übrig, von dem Traum, den jede Mutter vom Leben ihres Kindes hat? Wieder traten die Tränen aus meinen Augen. Warum muß ihm alles verwehrt sein? Mir wurde bewußt, welch ein großes Geschenk jeder kleine Entwicklungschritt bei Kindern ist. Wie wenig dankbar wir sind. Wie selbstverständlich alles ist. – Ich ging mit Sacha an dder Hand und Nike auf dem Arm zu meinem Auto. Fast neidisch blickte ich auf Sacha, der plappernd von seinem Abendteuer auf der Eisbahn erzählte. Woher sollter er wissen, was ich empfand.

Ich befand mich in einem Loch. Mein größter Wunsch war, das Gerd anrufen würde. Das er mich fragte, was bei der Untersuchung herausgekommen war. Es passierte nicht. Am Abend war es zu spät. Ich war gedanklich untergetaucht. Mit mir und meinen Gefühlen allein. Eine dicke Mauer umgab mich und ließ nichts mehr an Gefühlen nach außen. Trocken schilderte ich, wie es war und vermied jede gefühlsmäßige Regung. Warum auch? Wozu sollte es gut sein. Er steckte nicht in meiner Haut. Domenik und ich, wir waren eine Einheit. Keiner kam an mich heran. Keiner erreichte mich.

Wie eine Maschine machte ich die notwendigen Termine ab. Ließ die Untersuchungen über Nike ergehen und war nicht einmal gespannt auf die Ergebnisse. Was interssierte mich, was herausgefunden wurde. Wichtig war die Zeit, die wir allein verbrachten und in der ich meinen Sohn annehmen konnte, wie er war. Von einer Fröhlichkeit, die jeden ansteckte und mitriß. Jeder Millimeter seomes Körpers drückte dies aus. Aber auch von einer Wut, die keine Frage offen ließ, wenn etwas nicht sol lief, wie er es sich vorstellte. Seiner Kraft konnte sich keiner entgegenstellen. Hatte er ein Ziel vor Augen, so gab es nicht und niemand, der ihn davon abhalten konnte. Kein erzieherisches Mittel, das bei ihm Erfolg hatte. Keine Bestrafung und keine Belohnung, die ihn von seinem Weg abweichen ließ.