Kapitel 10

Oh Fröschen, Du Orkan, Du Wirbelwind, Du einzigartige Naturkatastophe. Wenn ich heute hier sitze und alles aufschreibe, tritt mir wieder der Schweiß auf die Stirn. Mein Leben lang habe ich nicht so viel geputzt, geräumt und versteckt, wie in dieser Zeit. Der Satz: „Achtung Nike kommt“ hat uns lange verfolgt und klingt heute noch in meinen Ohren.

Deine Therapeutin vom Autismus Institut ich ich standen vor einer schie unlösbaren Aufgabe. Was konnten wir tun, um Deine Experimentierfreudigkeit in einigermßen zumutbare Bahnen zu lenken? Wir bauten Dir Toilettenschüsseln aus Knetmasse in die Du kleine Gegenstände reinstecken konntest und die wir dann erneut mit dieser Masse abdeckten, sodass Du das Gefühl hattest, das der Gegenstand verschwunden ist. Die Rohrleitungen waren ein Problem. Sie brachen leicht ab und Du wurdest dann sehr wütend.  – Wir versuchten das ganze aus Ton herzustellen und liessen es von einer Töpferin brennen. Es entstanden die witzigsten Modelle. Naturgetreu, mit Deckel und Leitungen in alle Richtungen, sodass der Transport zum Brennofen eine echte Herausforderung wurde. Ich weiß heute nicht mehr, wie oft wir nachträglich Reperaturarbeiten vorgenommen hatten, damit das Endresultat Deinen Erwartungen entsprach. – Die Mühe hatte sich gelohnt, da Du mit diesen Modellen begeistert spieltest.

Wie gut sich in dieser Zeit Dein Sprachverständnis und Deine Sprache entwickelte! Du konntest Deine Handlungen kommentieren, dadurch gelang uns der Einstieg in Deine Gedanken- und Fantasiewelt und dadurch hattest Du die Möglichkeit, viele Deiner Ideen über diesen Weg auszuleben, ohne sie wirklich in Handlungen umzusetzen. So verschwanden selbst Fahrräder und Autos in der Toilette, gingen durch die Rohrleitungen in die Kanalisation, in die Elbe. Und reichte Deine Fantasie nicht aus, half ein Stück Papier, auf dem wir das Zeichnen konnten, was Du verschwinden lassen wolltest.

Auch für das Ausgiessen und Ausschütten fiel uns eine Lösung ein. Im Institut befanden sich Plastikrohre, die Du an einem Waschbecken unter den Wasserhahn halten konntest, sodass das Wasser durch die Rohre in eine große Schüssel lief. Hier durftest Du nach Herzenslust Wasser, Sand und was Dir sonst noch einfiel reinschütten.

Für zu Hause kaufte ich ein großes Sandrad, stellte es in die Badewanne und stellte Dir allerlei Dinge zur Verfügung, die sonst auch von Dir gern ausgeschüttet oder ausgegossen wurden. – Leider war ich gezwungen, meine Zeit mit Dir im Badezimmer zu verbringen und kam nicht dazu meine anderen Aufgaben zu erledigen. Also verlegten wir den Schauplatz in die Küche, wo ich zumindest Kochen und Abwaschen konnte. Dein großer Eifer führte dann doch des Öfteren zu Überschwemmungen. Also ließen wir das Wasser weg. Reis, Linsen, Salz, Zucker und Murmeln stellten Dich zufrieden. Nebenbei gefiel Dir der Effekt, dass viele dieser Dinge Geräusche erzeugten. Um keine Langeweile aufkommen zu lassen, verlegten wir Papprohre zum Sandrad und vom Sandrad weiter in andere Schüsseln Nun war es an der Zeit, diese Konstruktion, die von Tag zu Tag wuchs, in einen anderen Raum zu befördern. Dafür mußte das Wohnzimmer herhalten. Abends, wenn wir es uns gemütlich machen wollten, wurde alles  zur Seite bewegt und die daneben gefallenen Reis-, Sand-, Erbsen und Linsenkörner haben wir fein säuberlich aufgefegtund aufgehoben und in die entsprechenden Behälter zurück getan. Ich kann nur sagen, was für eine Arbeit. Bis heute bereue ich, dass wir das Ganze nicht fofografiert haben. Am Ende war dieses Gebilde ca. 3,50 Meter lang und sehr, sehr baufällig.

Es war schon sehr spannend, denn nicht nur Du, sondern auch Sacha und seine Freunde fanden Gefallen an diesem Spiel. Alle beteiligten sich an dem Ausbau und ließen sich Verbesserungsvorschläge einfallen. Neue Ideen, um die Verbindungen der einzelnen Rohr besser haltbar zu machen, wurden beigesteuert. – Das Mammutwerk stand viele Monate im Zimmer und nicht selten ertappten wir Erwachsene uns dabei, wie wir unseren Spieltrieb befriedigten _ natürlich nur um herauszufinden, was wir noch konstruktives beisteuern konnten.

Die Kinder aus der Nachbarschaft nisteten sich bei uns regelrecht ein und Sacha genoß es, dass Du endlich einmal der Grund warst, warum sie kamen und nicht gingen. Wo konnte man soooo schön spielen? Das brach das Eis und aus dem nervigen, schrulligen und ach so schwer zu verstehenden Domenik wurde ein Bruder, mit dem man Spaß haben konnte, – wenn man sich nur lange genug anstellte, um an die Reihe zu kommen.

Zu Hause waren die Probleme einigermaßen gelöst, aber der Kindergarten hatte seine liebe Mühe mit Dir. Wie sollte es auch anders sein. Es gab keine Einzelbetreuung für Dich. Deine Unzufriedenheit wuchs. Immer wenn Du nicht individuell betreut werden konntest, steigerte sich Deine Unruhe ins Unermessliche. Es war eine ständige Überforderung dem Treiben der Kinder zuzuschauen und gleichzeitig Dich auf Deine Tätigkeit zu konzentrieren. Ich glaube,dass Deine Kipp- und Gießaktionen eher eine Art Kompensation waren.

Es schaukelte sich wieder einmal hoch und niemand konnte etwas verändern. Ich brachte Dich ungern in den Kindergarten, denn die Freundlichkeit, mit der wir empfangen wurden, war aufgesetzt. Die Eltern mieden mich, deren Verständnis Deiner Behinderung gegenüber hatte ein Ende.