Kapitel 12

Das Erleben und Aufleben während der Feiertage, der wunderschöne Abschluß des Jahres, veranlaßten mich zu dem Entschluß, meine Arbeit in der Praxis aufzugeben. Das, woran ich so lange krampfhaft festgehalten hatte, trotz der Trennung weiter zu arbeiten, fiel mir plötzlich ganz leicht, los zu lassen. Es war das ersteMal, dass mir der Satz, ich kann nicht mehr, wie eine Erlösung vorkam. Es war keine Niederlage, es war ein Triumpg. Meine Lippen sprachen es aus und ich fühlte mich frei. Was störte mich, was Gerd darüber dachte. Mein Schritt, mich von Werten und Normen zu befreien, war entgültig. Warum mußte ich mich und dieser Gesellschaft beweisen, dass ich als alleinerziehende Mutter auch noch in der Lage war, zu arbeiten? Wer hatte letztendlich etwas davon? Ihr bestimmt nicht, Und ich?

Wie vorausahnend ich doch geplant hatte! Inmitten meines Traumes von Freiheit und viel Zeit für alles zu haben, mein neues Leben in den schönsten Farben ausmalend, erhielt ich einen Anruf von Deiner Leiterin des Kindergartens. In all den Wirren war mein Blick und Gespür für das, was dort ablief gedämpft gewesen. Mir wurde mitgeteilt, dass Du für die Gruppe nicht mehr tragbar warst und sie legte mir nahe, im Interesse aller, ersteinmal eine Pause einzulegen.

Die Träume waren geplatzt mit lautem Knall. Ich fiel buchstäblich auf den Boden der Wirklichkeit zurück und befand mich wieder in meinem Gefängnis. Anstatt weiter zu träumen, was ich alles mit dem freien Vormittag anfangen konnte, während Du im Kindergarten warst, richtete ich mich gedanklich darauf ein, mit Dir von morgens bis abends zusammen zu sein.

Ich begriff noch nicht, das alles was sich ereignete, die Vorbereitung auf meine wirkliche Freiheit und Unabhängigkeit war. Ohne vom Kindergarten e meine Entscheidung, mit der Arbeit auf zu hören, hätte ich die Pause gar nicht akzeptieren können.

Gewiß, es war eine Qual, Du mochtest keine Veränderung Deine Tagesplanung war zerstört. Schon die Weihnachtsferien brachten Dein Leben durcheinander. Jetzt war alles noch problematischer. In den Ferien konntest Du die Tage zählen, bis Dein Leben wieder „normal“ wurde – und jetzt? Wieweit solltest Du zählen? Ich wußte es nicht. Ich weiß nicht, war keine Antwort. Immer wenn ich etwas nicht wußte, kam von Dir „so sagen, ist falsch sagen“ und falsch sagen machte Dich sehr, sehr wütend! Du verzweifeltest in dieser Welt, in der es die falschen Antworten gab. Gefangen in Deiner eigenen Welt wurde der einzig sichere Ort Dein Zimmer, indem Du Dich zurück zogst und Dich einigermassen wohl fühltest. Jeder Schritt aud die Straße war ein Martyrium. Schon wenn ich Dich anzog, um Einkaufen zu gehen, fingst Du zu Schreien an. Das ich Dich aus Deiner Tagesstruktur gerissen hatte, Deine wohlüberlegten Pläne zerstörte, hatte Dir jeglichen Halt genommen. Keine Fahrroute, kein Kindergarten, keine vertrauten Gesichter, alles war weg. Und jetzt Chaos. Wie lange würde es dauern. bis Du neue Strukturen annehmen konntest? Du fingst plötzlich an, die Motorengeräusche der Fahrzeuge zu hassen, die Hektik, die die Menschen auf der Straße verursachten, schienen Dir Schmerzen zu bereiten. Dein lautes Schreien erregte so viel Aufsehen, dass ich überlegte, meine Einkäufe ohne Dich zu erledigen. Dafür mußte ich Dich in Deinem Zimmer einsperren, was mir ein schlechtes Gewissen bereitete. Wer in aller Welt, sperrt sein Kind im Zimmer ein? Das klingt doch wie eine Bestrafung. Ich aber wollte Dich nicht bestrafen, ich wollte Dich beschützen, denn dieses schien zu dem Zeitpunkt Dein einzig sicherer Ort zu sein. – Und siehe da, wenn ich von den Besorgungen zurückkam, fand ich einen entspannten und zufriedenen Domenik vor.

Der Gedanke, dass Du dort eingesperrt warst, fing an, ein positives Gefühl bei mir zu wecken. Ich glaube, dass erst die geschlossene Tür, Dir Sicherheit bot. Die Begrenztheit Deines Raumes, sowie das Bewußtsein, die Tür nicht öffnen zu können, boten Dir Schutz und Geborgenheit, denn Du selbst warst innerlich nicht in der Lage, Dir diese Begrenzung zu geben. Dein ruheloser Körper und Geist brauchte äußere Mauern. Das was ich aus der Kinderzeit als Strafe in Erinnerung hatte, eingesperrt zu werden, war für Dich eine Wohltat.