Kapitel 2

Bei der Mütterberatung und der Vorsorgeuntersuchung in der Praxis der Kinderärztin war Domenik das Vorzeigebaby. Es sprach sich schnell herum, dass es ein knapp 4 Monate altes Baby gab, dass bereits Krabbeln konnte. Einerseits war ich sehr stolz auf Dich und genoß den Ruhm, aber auf der anderen Seite empfand ich ein gewisses Unbehagen. Mir schien, als ob Nike Hindernisse ignoriete. Stuhlbeine, Tischbeine, Schränke, Sessel und Sofa wurden nicht umkrabbelt, sondern er versuchte sie durch mehrmaliges ankrabbeln aus dem Wege zu räumen. Sein kleines Köpfchen bekam blaue Flecken und eine Beule nach der anderen.

Ich erzählte das besorgt meiner Kinderärztin, sie aber tröstete mich und meinte, dass Domeniks köperlichen Fähigkeiten bei weitem seiner geistigen Entwicklung voraus wären. Jedoch machte sie sich Sorgen um Nikes Wirbelsäule. Seine Rückenmuskulatur sei zu wenig ausgebildet, daher verschrieb sie mir Krankengymnastik für ihn.

Gleich nachdem ich zu Hause war, machte ich einen Termin für Domenik ab und von da an, gingen wir zweimal die Woche zur Therapie. Die Therapeutin war mir ausgesprochen sympathisch und gefiel, glaube ich, auch Nike auf Anhieb. Sie begleitete uns eine lange Zeit. Half mir, vieles zu verstehen und vieles zu begreifen und nahm meine Bedenken ernst. Sie hörte sich meine Sorgen an und stützte Domenik auf seinem Weg durchs Leben. In liebevoller und einfühlsamer Weise zeigte sie mir Übungen, die ich spielerisch mit ihm zu Hause machen konnte.

In dem Maße, in dem sich seine körperlichen Fähigkeiten entwickelten, wurde für mich, und durch meine Schilderungen über sein Verhalten zu Hause, auch für seine Therapeutin erkennbar, dass bei Nike vieles nicht stimmte. Reflexe, die längst haätten weg sein müssen, hatte er noch. Andere, die langsam kommen mußten, blieben aus.

Durch die aufmerksame Beobachtung der Krankengymnastin, die immer wieder Rücksprache mit meiner Kinderärztin nahm, wurde aus den vielen Puzzleteilchen langsam ein deutliches Bild. Bei der nächsten Vorsorgeuntersuchung bestätigte sich dann auch der Verdacht. Domenik hat eine cerebrale Ataxie, eine Koordinationsstörung. Die Diagnose machte mir Angst, aber letztendlich erklärte sie mir viele seiner Verhaltensweisen trotzdem nicht.

Ich habe mit Freunden telefoniert und sie ausgefragt. Für Tage ging ich wie benommen durch mein Leben. Versuchte, das Gehörte mit dem, was ich bei Nike beobachtete in Zusammenhang zu bringen. Er hat eine Hirnstörung. Was bedeutet das? Er ist behindert. Was verändert dieses Wissen nun bei mir? Ich betrachtete ihn immer wieder. Sah ihn an, sah ihm zu. Aber das, was die Diagnose beinhaltete, hatte nicht mit dem zu tun, was mich beunruhigte. Vielleicht war die Art, wie er sich bewegte, etwas seltsam, aber es gab noch mehr, noch mehr, nur ich konnte es nicht in Worte fassen.

In den folgenden Therapiestunden legte die Krankengymnastin besonders ihr Augenmerk auf die Stimulation seiner Sinne. Wir haben ihn in eine Badewanne voller Kastanien gelegt. Seine Haut mit Bürsten abgeschrubbt. An warmen Tagen sind wir in den Garten gegangen und übergossen Domenik mit eiskaltem Wasser. Er juchzte und quietschte voller Vergnügen. Unfaßbar für mich, dass derartige Liebesbekundungen so viel Vergnügen bereiteten. Alles was ich bei der Krankengymnstin gelernte hatte, übernahm ich mit in meinen Alltag. Sooft es ging, ließ ich Domenik nackt dur die Wohnung robben. Ich kitzelte ihn so heftig, dass sein kleiner Körper rot anlief. Rieb ihn mit durchblutungsfördernder Creme ein, wusch ihn mit einem Massagewaschlappen, so dass sich kleine, rot Striemen auf seinem Rücken bildeten. Freunde und Bekannte reagierten auf meine deftige Art zu schmusen sehr befremdlich. Auch Gerhard hatte wenig Verständnis für diese sonderbare Form von Liebesbeweisen. Aber Nike ergötzte sich daran, wenn ich minutenlang auf seinem nackten Popo so lange klapste, bis er “rot war, wie der Hintern eines Pavians”. “Kneifen und Beißen” ließen ihn vor Freude erstrahlen.

Zusätzlich wurde von der Krankengymnastin noch Babyschwimmen in das Sonderbehandlungsprogramm angeregt. Ja, das war genau das richtige für mein kleines Fröschchen, dass hatte noch gefehlt. Wasser – Nikes Element. Über oder unter, das interessierte nicht. Sobald Domenik die Nähe des Beckens erblickte, konnte keine Macht der Welt ihn zurückhalten. Ob mit oder ohne Kleidung, er stürzte sich bei der erstbesten Gelegenheit in die Fluten. Ich hatte alle Hände voll zu tun, um ihn vom Reinspringen abzuhalten um ihn am Ende trockenen Fußes nach Hause zu befördern.

Domenik war und ist immer noch ein Vollzeitjob. Die vielen Therapietermine, die Merkwürdigkeiten, die ich an ihm beobachtete, machten mich sprachlos und erschöpften mich so sehr, dass ich mich innerlich zurückzog. Über das, was mit Domenik und mir geschah, wurde Gerhard immer fassungsloser, Er verstand, dass Nike eine Körperbehinderung hat, aber, was er sah und erlebte, hatte mit Körperbehinderung, so wie er es als Masseur verstand, nichts zu tun.

Ich kapselte mich immer weiter mit Domenik ab. Lebte in der einen Welt mit meinem sonderbaren Kind, dass ich ganz und gar nicht verstand. Abends und am Wochenende kehrte ich zurück in die andere Welt, die mich nicht verstand. Da spielte ich dann Mutter, Hausfrau und Ehefrau. Innen und Außen, sorgsam getrennt. Als Familie unternahmen wir Spaziergänge, besuchten Freunde. Ich interssierte mich für Sacha und das, was im Kindergarten passierte. Fragt Gerd nach seiner Arbeit und vermied immer mehr, von Nike zu erzählen und von dem, was mich bewegte.

Nachdem Domenik neun Monate alt war, beschloss seine Therapeutin die Krankengymnastik sowie das Babyschwimmen zu beenden. Nikes Muskulatur war gestärkt, so daß nun keine Gefahr mehr für seine Wirbelsäule bestand. Was die Sensibilisierung anging, war ich mittlerweile Profi und benötigte hierbei keinerlei Unterstützung mehr.

Für mich war die Beendigung der Therapien ein Geschenk. Drei Termine in der Woche fielen weg und das hieß ein gutes Stück Freiheit zurück. Sacha kam in der gesamten Zeit viel zu kurz und ich freute mich auf ein ganz normale, geregeltes Familienleben. Irgendwie muß sich mein Kopf wohl eingebildet haben, dass alle Sorgen vorbei sein würden.

Es kam ein wunderschöner Sommer. Mit Veronika, einer Bekannten und deren Tochter Lena, fuhren wir drei, Sacha, Domenik und ich, nach Südtirol. Veronikas Eltern hatten dort in einem kleinen Dorf eine wunderschöne Wohnung. Groß genug für uns, mit einem riesigen Balkon. Wir wanderten, suchten Pilze und badeten im nahegelegenen Weiher und genossen das Sommerwetter in vollen Zügen. Nike war überall mit dabei und es ging ihm prächtig. Vor meinem Bauch geschnallt, konnte er die Berge bewundern, mit dem Sessellift fahren und lange Wanderungen mit uns unternehmen. Sein allergrößtes Vergnügen war jedesmal wieder das Bad im eiskalten Weiher. Links und rechts einen Schwimmflügel um den Arm – und ab ging es in das kühle Naß. Wo wir uns nur ganz vorsichtig mit dem kühlen Naß anfreundeten, ist er ohne nachzudenken reingesprungen, wenn er meinem Haltegriff entkommen konnte. So oft es ging, ließ ich ihn nackt herumkrabbeln und seine weiße Haut bekam eine leicht braune Färbung. Es war seit langem die erste richtige Erholungspause und ich merkte, wie meine Energie langsam wieder zurückkam.

Oh ja, in Südtirol hat Nike auch zum ersten mal herausgefunden, daß es außer meine Brust noch andere Nahrungsquellen gab. Begierig wie er nun mal war, mußte er von allem probieren, was der gedeckte Tisch hergab. Das jedoch führte dazu, daß seine Därme mit dem neuen Angebot nicht so ganz zurecht kamen. Die Folge war Duchfall! Abends, konnte ich ihm wegen der Hitze nur mit einer Windel bekleidet ins Bett legen. Nike wollte und konnte nicht einsehen, daß eine gefüllte Windel länger als notwendig an seinem Körper haften sollte. Also entfernte er diese, und die nächste Portion landete danach in seinem Bett. Am nächsten Morgen hatte er dann auch gleich großartiges Material zum Spielen. Wir leider die Ehre, die übelriechende Masse samt der Bettwäsche zu entfernen. Es bestand weder die Möglichkeit, seine Freßsucht zu bändigen, noch ihn am entfernen seiner Windel zu hindern. Also legten wir abwechselnd Windelwechselnachtschichten ein. Damit war das Problem unter Kontrolle und die liebe Sonne, tat wenn doch zu spät reagiert wurde ihr übriges: Sie trocknete in windeseile die anfallende Wäsche.

Die drei Wochen vergingen wie im Fluge. Gut erholft und braungebrannt kehrten wir alle mit dem Zug nach Hamburg zurück. Dort begrüßte und das sprichwörtlich graue, regnerische Wettewr und der Alltag und meine negativen Gedanken holten mich bald wieder ein.

Der Herbst kam und es geschah nichts Aufregendes. Die Eigentümlichkeiten von Domenik nahm ich war, aber vermied es, ihnen besondere Beachtung zu schenken. Kurz vor Weihnachten begann dann aber Deine Eintritt in eine neue Lebensphase. Natürlich hatte ich schon lange darauf gewartet- Mit einem bangen Blick auf Domenik gerichtet und der Hoffnung, das es bald geschieht. Der aufrechte Gang, der noch zu seinem Glück fehlte, kündigte sich an. Ohne große Vorwarnung stapfte, stolperte mein kleiner Frosch ganz plötzlich auf zwei Beinen durch das Wohnzimmer. Gefesselt von dem Anblick sah ich ihm zu. Wie war es möglich, daß ein Mensch in einer derartigen Körperhaltung in der Lage war, längere Strecken auf zwei Beinen zu bewältigen ? Er sah ein wenig so aus, wie dieMiniaturausgabe des Glöckners von Notre Dame. Nichts paßte zusammen. Die eine Schulter hochgezogen, die andere hing tief herunter. Die dazugehörigen Armeschwangen in der Luft, als würden sie nicht zum Körper gehören. Ich hatte das Gefühl, als sei die Schwerelosigkeit bei ihm eingetreten. Die Geschwindigkeit war wol das einzige, daß Nike vor dem Fall bewahrte. Der Oberkörper schien sich nicht mit den Beinen abzusprechen, denn er war allem immer ein Stück voraus. Seine Beine jedoch schafften jedesmal vor dem Fall den Ausgleich. Ich war noch nicht so weit zu sagen, daß er laufen konnte, aber es war eindeutig eine Form des aufrechten Ganges. – Diese Form der Fortbewegung lernte er schnell zu beherrschen und auch noch ausgesprochen geschickt. Er war so stolz darauf, daß ich Nike nicht mehr dazu überreden konnte, sich in die Karre zu setzen. Jetzt gab es eine viel interessantere Variante, die Straßen von Ottensen zu erkunden.

Bedauerlicherweise hatte Nike nach wie vor Probleme mit der Wahrnehmung von Hindernissen. Passanten auf der Straße, Mülleimer, Hunde, Gemüsekisten, Briefkästen, Werbeschilder sowie geparkte Fahrräder, alles wurde angerannt, umgerannt, überrannt oder wich rechtzeitig aus. Immer wieder brachte ihn irgendetwas zum Stehen. Einkaufengehen mit Domenik war Abenteuer pur. Der Versuch, ihn in der Karre mitzunehmen scheiterte an seinem lautstarken Geschrei und den sich daraufhin erregenden Gemütern unverständliche, besorgter Menschen.

Ich fing an, meine Einkäufe oder dringende Erledigungen in die Zeit zu verlegen, in der Domenik seinen Mittagschlaf hielt. Spaziergänge mit Nike an der frischen Luft unternahm ich fast nur noch im nahegelegenen Park. Dorthin fuhren wir nur noch mit dem Auto. Am Wochenende, wenn Gerhard Zeit hatte, bummelten wir schon mal durch die Straßen in unserem Viertel. Dann waren die Straßen nicht so belebt, keine Gemüsekisten und Schilder zum umrempeln da und außerdem spielt Gerhard den zweiten Schutzengel.

Domeniks Technik der Fortbewegung wurde immer ausgereifter und ausgefeilter. Stürzer wurden seltener. Allerdings veränderte sich die höchst merkwürdiger Körperhaltung nicht wesentlich. Ich nahm wieder Kontakt zu seiner ehemaligen Krankengymnastin auf und bat sie um Hilfe. Wir bekamen ganz schnell einen Termin bei ihr. Sie freute sich sehr den kleinen Frosch wieder zu sehen, allerdings schockierte auch sie seine Körperhaltung. Die Art und Weise wie Domenik lief würde auf Dauer ernsthafte Folgen haben.

Nun ging es wieder los. Zweimal die Woche Krankengymnastik und zusätzlich besorgte sie mir einen Termin bei einer Neurologin, in einem ihr bekannten Institut in Hamburg.

Ich merkte, dass ich mir wieder Sorgen um seine Zukunft machte. Diese allzuvertraute Unsicherheit vom letzten Jahr stieg wieder in mir hoch. Was ist mit Nike? Ist es mehr als die Diagnose, die schon die Kinderärztin gestellt hatte. Institut. Neurologin. Das klingt unheimlich. Was wird festgestellt? Die Zeit bis zu dem Termin fühlte ich mich wie in Watte gepackt. Alles schien wie in einem Traum. Nicht ganz klar, nebelumwoben, mich nicht wirklich erreichend. Oft saß ich stundenlang mit Domenik in seinem Zimmer und schaute ihm nur zu und versuchte meine Gedanken weg zu schieben. Ich wünschte uns weit, weit weg auf eine Insel, wo es keine Norm, kein normal und unnormal gibt. Keine Blicke, die peinlich berührt zu Seite sehen. Ich wollte weg aus dieser Welt. Ihn behüten und beschützen. Und doch habe ich gefühlt, dass weglaufen nicht gut ist. Wir beide müssen raus und uns der Realität stellen. Es gibt nur eine Welt. Diese. Alles andere ist falsch.