Kapitel 15

Wie alles vorher, wurde Rechnen Dein ausschließliches Betätigungsfeld. Malnehmen, Teilen, Wurzelziehen. Mir schien, als ob Dir diese Gabe in die Wiege gelegt wurde. Dein Gehirn erfaßte das alles mit Leichtigkeit, so dass ich kaum imstande war, Dir zu folgen. Ununterbrochen experimentierte Du mit dem Taschenrechner. Deine Augen bekamen einen sonderbaren Glanz, wenn etwas Neues passierte, Sekunden hieltest Du inne, wiederholtest den Vorgang und ein Lächeln der Erkenntnis erschien auf Deinem Gesicht. Da ich bemerkte, dass dieses Gerät Deine Bedürfnisse voll und ganz befriedigt, kauft ich Dir einen größeren und besseren Rechner, damit Deine fleischigen Finger exakter Tippen konnten. Dieser wurde dann Dein wichtigstes Utensil in Deinem Leben. Wohin wir auch gingen, was wir auch unternahmen, Dein Taschenrechner war immer dabei. Ob bei Bsuchen, im Cafe´, im Restaurant, beim Autofahren, kaum zückte ich den Rechner, warst Du das ruhigste Kind, das ich mir vorstellen konnte. Früher kaum vorstellbar, mit Dir Essen zu gehen oder auch nur irgendwo einen Kaffe zu trinken, der kleine Wunderapparat machte alles plötzlich möglich. Ich entwickelte nie geahnten Unternehmungsgeist. Es machte alles wieder Spaß mit Dir. Wie lange hatte ich das schon vermißt? Die Freude an kleinen Dingen im Leben kehrte zurück.

Natürlich wußte ich, dass das nicht kindgerecht ist, dass ich das für meine Bedürfnisse in kauf nahm und Dich kleine Rechenmaschine machen ließ, nur um etwas Ruhe zu haben und endlich einmal Durchatmen zu können. Anstatt mich mit Dir auseinander zu setzten, gab ich Dir dieses Gerät in die Hand. Ich gebe sogar zu, dass ich endlich einmal in die Situation kam, Dein Anderssein zu geniessen. Du zogst neugierige, erstaunte und anerkennende Blicke auf Dich und nicht mehr diese abweisenden, furchterregenden, wie vorher. Ich sog das alles in mir auf, ich mußte mich nicht mehr mit Dir verstecken. Das tat so gut! Die Kommentare über Deine sonderbaren Verhaltensweisen, hatten tiefe Wunden bei mir hinterlassen. Es schmerzte so sehr, so dass ich mich mit Dir wie ein weidwundes Tier zurückgezogen hatte und im Schutze meiner Wohnung meine Wunden pflegen mußte. Jeder Gang mit Dir nach draußen war für mich wie ein Gang durchs Feuer. Über Jahre schwer angeschlagen, begann ich mich ganz langsam wieder gerade zu machen und mit erhobenen Hauptes und offenen Blick durch die Straßen zu gehen. Wer hatte sich schon einmal die Mühe gemacht, darüber nachzudenken, warum Du nicht wie die anderen Kinder warst. Keiner sieht Dir Deine Behinderung an. Das war ein zusätzliches Kreuz, dass ich mit mir herumtrug und noch heute trage. Mit Deinem blonden Bubikopf, den strahlend blauen Augen, Deinem blassen, zarten Teint und Deinem schön geschnittenden Gesicht, entsprachst Du dem Bild eines kleinen Engels. Wenn Du Dich freutest, gewannst Du jedes Herz – nur, da war die andere Seite und die ließ jeden in Deiner Gegenwart erstarren.

Andere Kinder in Deienm Alter spieltrn mit Autos, Puppen, Paymobil, Lego oder Eisenbahn. Du hattest eine Schreibmaschine, mehrere unterschiedliche Arten von Rechenmaschinen und Taschenrechner. Sehr befremdlich für Sachas Freunde, die wenn sie bei uns zu Besuch waren, ein derartig ausgestattetes Kinderzimmer mit offenen Mündern bestaunten. Kaum kamen sie in Deine Nähe, wurden sie mit einer äußerst schweren Rechenaufgabe bombardiert, deren Lösung natürlich nicht ihren Möglichkeiten entsprach.

Auch ich und alle anderen, die zu Besuch kamenm wurden nun systematisch Deiner Prüfung unterzogen. Der eine oder andere Besuch war ab und an in der Lage, hier eine Lösung anzubieten, für die mäßig begabten lag gleich neben der Eingangstür ein Rechner griffbereit im Körbchen. Oft nahm ich abends Nachhilfeunterricht, damit ich ein wenig mit Dir Schritt halten konnte, aber wie sich jeder vorstellen kann, wollte ich auch das nicht zu meinem Lebensinhalt machen.

Deine Therapeutin sah genau wie ich, dass diese Einseitigkeit für den Moment wichtig und hilfreich war, allerdings überlegt sie, ob wir Dich nicht auch in andere Bahnen lenken sollten. Manchmal erschienst Du mir absolut überfordert und überangestrengt. Mit Deinen viereinhalb Jahren verarbeitete Dein Gehirn Dinge, die wenn überhaupt ein Jugendlicher bewältigen konnte. Du warst einfach nicht in der Lage, Dich selber zu bremsen. Dein innerer Motor trieb Dich immer weiter an. Ständig unter Strom, brannten oftmals Deine Sicherungen durch. Dann war der kleinste Tippfehler eine riesen Katastrophe. Du fingst in dem Fall an, an der Unfähigkeit Deines Körpers zu verzweifeln. Hast Deine Finger bestraft, indem Du kräftig darauf gebissen hast. Schlugst voller Entsetzen Deinen Kopf gegen Tisch und Wände. In solchen Momenten warst Du wieder mein kleiner Frosch, und ich spürte Deine Hilflosigkeit ganz deutlich. Du wolltest und konntest nicht verstehen, dass Dein Körper nicht auf die ausgesandten Befehle reagierte.

Das war etwas, was ich immer bei Dir beobachtet hatte. Deine Fassungslosigkeit darüber, dass Dein Körper keine Einheit mit Deinem Geist bildete. Auch Dein Unverständnis darüber, dass Dir die Kraft zur Erreichung irgendwelcher Ziele fehlte. Auch Deine Größe (Kleine), die Dich daran hinderte, Dinge allein zu erreichen, ärgerte Dich. Du warst Unduldsam, was Schwäche anging. Bei Dir und auch bei anderen Menschen. Das war auch scheinbar die Erklärung dafür, dass Dich Kinder überhaupt nicht interessierten. Ihre Versuche, zu Dir Kontakt aufzunehmen, scheiterten an Deiner Ignoranz.