Kapitel 11

Zwischen Arbeit, Kindergarten, Therapie und dem Versuch, auch Sacha ab und an mal zu seinem Recht kommen zu lassen, verloren Gerhard und ich uns zusehens. Gespräche, die wir versuchten mit Freunden zu führen, wie wir es wohl hinkriegen könnten, unsere Ehe zu retten, halfen uns nicht weiter. Wir beschlossen irgendwann eine räumliche Trennung, da Gerhard die Arbeit in den Vordergrund stellte und ich für alles andere zuständig war.

Monatelang tat sich nichts, bis mir eine Freundin von einer Wohnung erzählte, die wie geschaffen für Gerhard und unsere Finanzen schien. Ich ließ sofort einen Besichtigungstermin vereinbaren und zwang iihn förmlich diesen wahrzunehmen und nicht auch wieder verstreichen zu lassen. Im Oktober 1982 war es dann so weit. Die Wohnung konnte bezogen werden. Da mein Mann aber ganz konkrete Vorstellungen von „wie soll seine neue Wohnung aussehen, sprich Farben, Einrichtung und Gestaltung“ verging Woche um Woche, ohne das sich etwas in Richtung Umzug tat. Er erschien regelmässig weiterhin zum Schlafen bei uns ohne mit mir zu reden und ohne nun endgültig einen festen Termin zu nennen, bis es mir reichte. Nach mehrmaliger Aufforderung, nun endlich auch in seiner Wohnung zu übernachten, ließ ich eines abends die Schlüssel im Schlüsselloch stecken, sodass er gezwungen war, den Wohnungswechsel vorzunehmen.

Unser Konto wurde für die Einrichtung der Räumlichkeiten ohne Absprache hart auf die Probe gestellt. Auf Nachfrage, warum schon wieder ein so hoher Betrag abgebucht wurde, erhielt ich die Antwort: Umziehen und zwei Haushalte zu führen, kostet eben Geld. Immerhin müsse er sich dort auch wohlfühlen. –

Die Schwierigkeiten im Kindergarten, die Gleichgültigkeit von Gerhard, die Spannungen, die sich in der Praxis niederschlugen, nagten an meinen Nerven. Es war wieder soweit. Ich hatte keine Reserven mehr. Fühlte mich müde, matt und ausgelaugt. Meine Nerven waren wie Drahtseile gespannt und ich hatte das Gefühl, dass mich alles zerreisst.

Ich verkroch mich tagelang mit Euch Kindern in der Wohnung. Völlig paranoid. Hatte Angst, dass Gerd Sacha bei der Schule abfängt, dass er plötzlich vor unserer Tür steht und klingelt, wenn ich nicht zu Hause bin und ihn mitnimmt oder in die Wohnung kommt und bleibt. Er rief ständig an und fragte nach irgenwelchen Dingen, die er noch dringend brauchte. Klingelte zu den unmöglichsten Zeiten ohne sich anzumelden an der Tür. Ich verließ das Haus nur noch, um zur Arbeit oder zum Kindergarten zu fahren und trichterte Sacha ein, nach der Schule sofor nach Hause zu kommen und gespielt mit Freunden wurde in der Wohnung. Nachmittags schlossen wir uns ein. Ich hatte keine Vorstellung, wie es Gerhard ging, oder was er plante.

Irgendwann wachte ich aud aus dieser Lähmung und beschloß ein neues Schloss einzubauen und die Telefonnummer zu ändern, damit Ruhe und Sicherheit wieder einkehrt. – Warum sind mir derart einfache Dinge nicht eingefallen? Angst lähmt, Angst blockiert. Schritt für Schritt fing ich an wieder Sicherheit zu bekommen und die Trennung zu vollziehen. Denn nach den Erfahrungen, die ich gemacht hatte, mit Gerhards Verhalten, war räumliche Trennung zu wenig.

Wir wurden wieder normal, telefonierten, Sacha ging wieder raus und spielte mit seinen Freunden, ich ging einkaufen ohne mich umzusehen und lud wieder Freunde zu uns ein, ohne das ich, wenn es klingelte, gleich hochschreckte.

Mein schlechtes Gewissen blockierte mich die ganze Zeit. Gerhard war auch Mieter dieser Wohnung (zumindest stand er im Mietvertrag) und rechtlich gesehen, hatte er alle Möglichkeiten. Eine Entscheidung für mich zu treffen, ist einfach, jedoch sie in die Tat umzusetzen, auch gegen den Willen anderer, das kostet Kraft. Erst beim Durchsetzen, wird klar, welche Folgen plötzlich diese Entscheidung hat. Weder Gerhard noch Sacha wollten meinen Weg gehen. Ich mußte sie dazu zwingen. Ohne Schuldgefühle kam ich da nicht durch. Hin- und hergezogen zwischen dem, was ich will und richtig finde und dem was Sacha und Gerhard wollten. Bin ich egoistisch? Habe ich das Recht, andere Leben zu manipulieren? Verantwortung ist doch nicht, alles um mich herum, mit in meinen Strudel zu ziehen. Gerhard war erwachsen und konnte sich selbst helfen, aber Sacha brauchte mich – und auch seinen Vater. Wie sollte ich diese Balance hinkriegen ohne Sacha zu verletzen?

Bei Dir war alles ganz anders. Das was zwischen Deinem Vater und mir geschah, hat Dich kaum interessiert. Du hast Dein Augenmerk stets darauf gerichtet, dass Dein Tagesablauf nicht durcheinander gebracht wurde. Gerds Auzug schien für Dich kein Problem zu sein. Eher die Tatsache, dass einige Möbel fehlten und ab den Wänden bestimmte Bilder verschwanden. Was schwierig wurde, war meine Nervositätnund Unkonzentrietheit. Deine Willenskraft, Deine Bedürfnisse mußten ohne wenn und aber erfüllt werden. So sehr ich mir auch Mühe gab, einen für uns alle gangbaren Weg zu finden. Es mißlang. Unsere Wünsche, ein wenig Halt in diesen turbulenten Tagen zu finden, haben Dich nicht interessiert. Von heute aus gesehen, ist es mir verständlich, wie eng Du Deinen Rahmen abstecken mußtest, um in dem Gefühlsdurcheinander bei Sacha und mir, für Dich Deine Orientierung zu finden. Emotionen sind etwas Fremdes, Bedrohliches, nicht Greifbares.

Also hast Du die vollkommene Kontrolle übernommen Schon beim Öffnen Deiner Augen am Morgen bist Du Punkt für Punkt den Tagesablauf durchgegangen. Gezielt wurde die Fahrtroute festgelegt, d. h. welche Straßen wir durchfahren, um in den Kindergarten zu gelangen. Der Rückweg wurde genauso Marschallstabsplanmässig durchgeführt. Danach, wann wir was und wo einkaufen, was wir essen. Zu Mittag und zum Abendbrot und wann Du ins Bett gehst. Habe ich mich nicht exakt an Deinen Plan gehalten, bist Du laut schreiend zusammengebrochen und für den Rest des Tages waren wir Deinem Schreiterror ausgesetzt. Niemand und nichts konnte Dich aus diesem Zustand befreien.

Sacha blieb nichts anderes übrig, als an solchen Tagen zu fliehen. Er nistete sich entweder bei freundlichen Nachbarn oder Freunden ein und ich konnte, wenn überhaupt, mir nur mit bist. Kopfhörern und lauter Musik helfen. Die einzige Erholung waren die Abende, nachdem Du im Bett warst und vor lauter Erschöpfung eingeschlafen warst. Das waren die einzigen Stunden, in denen ich versuchte, mein Nervenkostüm zu reparieren.

In der Praxis machte ich brav weiter. Tat mein Pflicht, wie ein Roboter erledigte ich meine Aufgaben, ohne auch nur eine Gefühlsregung. Alles war auf Eis gelegt. Gerd begegnete ich wie einen Fremden. War freundlich, höflich und unverbindlich. Er ließ mich bis 12.00 Uhr meinen Dienst verrichten und schenkte mir keine Sekunde.

Der Winter kam, die Straßen waren vereist und ich mußte ersteinmal mit dem Auto nach Groß Flottbek und dann genau in die gegengesetzte Richtung, nach Uhlenhorst in die Praxis und das gleiche dann umgekehrt am Mittag. Auf meine Bitte hin, etwas früher fahren zu dürfen, schlug Gerd mir vor, mit der Arbeit aufzuhören, falss mir das alles zu viel wird. Ich glaube, er vergaß, dass es sich hier auch um seine Kinder handelte. Mit der Trennung hat er wahrscheinlich auch die Vaterschaft abgelegt.

Also raste ich todesmutig Tag für Tag durch Eis und Schnee, ankämpfend gegen die Zeit, die mein Feind war. Erfüllte den von Dir vorgegenen Tagesplan routinemässig und wartete sehnsüchtig auf den Abend, der für mich die Erlösung war. Die Wochenenden füllte ich so gut ich konnte mit Unternehmungen aus, bei denen Freundinen und Freunde zahlreich und hilfreich beiseite standen.

Weihnachten klopfte erneut an die Türe. Die Praxis und der Kindergarten schlossen ihre Pforten. Ich freute mich auf diese Verschnaufpause. Kein Fahren, keine Arbeit, keine Organisation. Nachdem ich die Jungs versorgt hatte, machte ich es mir morgens im Bett gemütlich, mit Frühstück und einem guten Buch und richtete unsere freie Zeit, so ein, dass es uns gut geht. Kein Druck von Außen. Selbst Du hast die Feiertage gut überstanden und Sylvester wurde zu einem der schönsten Tage seit langer Zeit. Ohne Verabredung trafen gute Freunde bei uns ein, die alle eine Kleinigkeit zum Essen mitbrachten. Zur Krönung des Tages fing es gegen Mitternacht an zu schneien, so dass die ganze fröhliche Gesellschaft in einer Schneeballschalcht auf dem freien Platz vor unserer Tür ihrem Vergnügen freien Lauf ließ. Durch den Schneefall war die Sylvesterknallerei derart gedämpft, dass auch Du Deine wahre Freude an diesem letzten Tag im Jahr hattest. Staunend standest Du in der Mitte des Platzes, alles war wie in Watte gepackt und Du sahst voll Faszination auf die vielen bunten Punkte in der Luft, die von den Raketen gezaubert auf die Erde fielen.