Kapitel 13

Um Dir den Aufenthalt in Deinem Zimmer so angenehm wie möglich zu gestalten, fing ich an, es liebevoll zu gestalten. In den letzten Jahren war ich nur darauf bedacht, es einfach und schlicht zu halten, da Du dieses Zimmer nur zum schlafen benutzt hattest. – Jetzt besorgte ich Tapeten mit niedlichen blauen Herzen, Bilder, die ich an die Wände hing und kleine praktische Möbel, um Dir  Sitzgelegenheiten und eine Arbeitsfläche zum malen und basteln zu bieten. Kleine, bunte Beutel für jegliche Art von Spielzeug hing ich an kleine Hacken. Zu guterletzt noch ein kuscheliger Teppich und nach ca. 3 Wochen Arbeit entstand ein kuschelig, gemütliches Kinderzimmer. Ich war glücklich und zufrieden mit meiner Arbeit und fühlte mich in dieser Zeit der Beschäftigung ausgefüllt und kreativ gefordert. – Endlich konntest Du Dein neue gestaltetes Zimmer beziehen.

Womit ich nicht gerechnet hatte, dass ich am nächsten Morgen alle Bilder und Spielsäcke wahllos hingeworfen auf dem Boden vorfand. Ich war sehr enttäuscht und hing alles wieder auf seinen angestammten Platz, vermied es jedoch, mit Dir zu schimpfen. Der nächste Morgen hielt die gleiche Überraschung für mich bereit, allerdings fehlten jetzt auch Teile der Tapeten, sie lagen in Fetzen gerissen neben den Bildern und Beuteln auf dem Boden. Da ich nicht begriff WARUM und WESHALB, hing und klebte ich alles wieder zurück in den Orginalzustand. Vergebliche Liebesmühe. In steter Regelmässigkeit wiederholten wir dieses Spiel. Wir wurden zu einem eingespielten Team. Ich klebte und hängte an, Du entferntes alles systematisch. Die Abstände wurden immer größer, da mein Elan versiegte. Es war sicherlich kein Augenschmaus, aber ich fing an, mich damit abzufinden. Dein Zimmer hatte wenig, von dem, was ich mir als Kinderzimmer vorstellte. Ich entschied mich dafür, ohne  das ich es verstand, Dir Dein Chaos zu lassen. Vielleicht brauchtest Du, um Dich wohlzufühlen alle diese Dinge gar nicht und ich wollte nur das Gefühl haben, das wenn ich kein Kind zum Vorzeigen hatte, wenigsten ein Zimmer zum Vorzeigen brauchte?

Während unserem intensiven Zusammensein entwickelte sich Deine Sprache außerordentlich gut. Dein Wortschatz wuchs von Tag zu Tag, Wir kommunizierten in einer Art Frage- und Antwortspielgierde. Deine Wißbegierde schien unermesslich. Die Dinge, die Dich interessierten wurden bis ins kleinste Detail erforscht und jedes noch so komplizierte Wort gespeichert. Du benutztes einen sehr eigenen Satzbau, unnötige Wörter wurden weggelassen. Ich konnte Dich aber trotzdem gut verstehen. Das Wort „Ich“ existierte nicht in Deinem Vokabular. Wenn Du von Dir sprachst nahmst Du Deinen Namen oder es war ein „Du“ oder ganz vornehm ein „Er“. Ich versuchte alles menshenmögliche, aber „Ich“ hatte nichts mir Dir zu tun und es gab keinen Grund, dieses Wort für Dich anzunehmen. „Du Domenik“, Du Mama“ und „Du Sacha“. So ergaben sich dann auch oft lustige und für Dich eher ärgerliche Situationen. Freunde und Bekannte taten sich schwer dabei, den wahren Inhalt Deiner Aussagen herauszufinden. „Mußt Du aufs Klo? Hast Du Hunger? Willst Du trinken? Bist Du müde?“ wurde dann mit „Nein danke“ oder „jetzt nicht“ beantwortet, worauf Du dann oft sehr wütend reagiertes, aber irgendwann laut schreiend  die Brücke mit „Du Domenik“ bautest.

Das war sehr befremdlich und rätselhaft für mich. Ich hatte das Gefühl, das Du von außen auf Dich blicktest und Ihr zwei Personen seid. – Jedes Kind tat es automatisch, auch Sacha hatte sehr früh begriffen, dass der andere zu ihm „Du“ sagte und er selbst das „Ich“ für sich in Ansopruch nahm.

Wieder einmal, durch meinen Kopf gelenkt und vom Ehrgeiz getrieben, ließ ich mich dazu hinreißen, Dir das „Ich“ einzuprogrammieren. Viele kleine Versuche schlugen fehl, aber ich gab nicht auf.

Dein bevorzugtes Lieblingsessen waren Pellkartoffeln frisch aus der Hand, Du liebtes es, mir beim Entfernen der braunen Schale zuzusehen und danach die hellgelbe, dampfende Kartoffel mit großem Appetit zu verspeisen.

Hier mußte ich schändlicherweise mein pädagogisches Experiment ansetzen. Im Wohnzimmer sitzend, den Topf zwischen den Knien, bereitete ich mich auf mein Attentat vor. Es dauerte nicht lnge und Deine wohlbekannte Neugierde trieb Dich ins Verderben. Sacha hatte sich bereits, wie vorher abgesprochen, zu mir gesellt. Immer wenn eine dieser Köstlichkeiten entkleidet war, fragte er laut und deutlich: „Mama, darf ich eine Kartoffel essen?“ Sogleich reichte ich sie ihm hin und er verspeiste sie mit Genuss. Ich wußte, jetzt warst Du an der Reihe.“Willst Du eine Kartoffel essen?“Ich sah Dich an und ärgerte Dich, indem ich verneinte. Wieder stellte Sacha seine Frage richtig und wieder bekam er wonach er verlangte. Nochmals sprudelte aus Deinem Munde: „Willst Du eine Kartoffel essen?“ Ich gab nicht auf. „Domenik, das heißt ich will eine Kartoffel essen“. Ich bemerkte Deine Unruhe. Du liefst auf und ab, hin und her. Ich weiß nicht mehr, warum ich es so weit kommen ließ, warum ich den Bogen überspannte. Vielleicht wollte ich mir und der Welt beweisen, das Du in der Lage warst, es zu sagen. Mein Blick war so getrübt, dass ich Deine Hilflosigkeit nicht sah. Dann kam es dazu, was ich mir heute noch als schweren Verrat an Dich empfinde. Du stelltest Dich vor mich, drehtest mir den Rpücken zu und Deine Stimme klang eisig und kalt: „Ich will eine Kartoffel essen“. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter und ich schäömte mich bis tief ins Mark. Wie konnte ich Dir das antun? Das Lied von Bettina Wegener fiel mir spontan ein: „Hat so ein kleines Rückrat, darf man nicht zerbrechen“. Ich war gerade dabei. Das wollte ich nicht, das sollte nicht sein. Diese Lehre habe ich bis in die Ewigkeit begriffen. Nie wieder habe ich einen solchen Versuch gestartet!!!!!