Kapitel 8

Der Kindergarten befindet sich in einer sehr guten Gegend vin Hamburg. Anhand der Kleidung der Kinder erkannte ich, dass es sich hier um Familien handelt, die finanziell sehr gut gestellt sind und für die Mütter war Zeit kein Problem. Sie brachten ihre Kinder gut gestylt in Kaschmir und Angora. Sie selbst waren zurecht gemacht, wie gerade vom Frisör und Beautystudio gekommen. Ich will nicht ungerecht sein und urteilen. Sicherlich ist es jedem erlaubt, sein Leben nach seinen Wünschen zu leben und sich zu kleiden, wie es ihm behagt. Aber – wie nehme ich ein völlig mit Baggermatsch Kind auf den Arm, wenn ich derart bekleidet bin? Allerdings kam es auch selten dazu, denn entsprechend der Mütter, waren auch die Kinder. Vernünftig, reserviert und sehr ordentlich.

Und hier platzten wir herein. Abgekämpft, durchgeschwitzt, und unfrisiert. In Hetz und Eile am Morgen fertiggemacht und meistens Minute angekommen. Mein ungezähmter Domenik, der keine Manieren und keine Regeln kannte. Deine Sprache war kaum ausgebildet. Ein ja oder ein nein gab es zeitweilig, wenn man Glück hatte. Mit fremden Menschen kommunizierte er gar nicht. Nike sprach am liebsten mit sich selbstzu. Das für Dich zu dieser Zeit beeindruckendste war das Wunderwerk der Natur. Dein Penis. Er übte schlichweg eine Fazination auf Dich aus – und natürlich auch auf alle anderen Kinder, positiv wie negativ. Es war nicht nur, dass Du dieses Wort laut und deutlich, sowie sehr langezogen ausgesprochen hast, sondern Du erteiltest mit großem Vergnügen Anschauungsuntericht  in „was man alles damit machen kann“. Das war für die Erzieher eine riesen Herausforderung. Was sollten sie dagegen tun? Ignorieren? Auf keinen Fall möglich, da Nike ganz deutlich spürte, dass die Kinder auf diesen interessanten Untericht mit äußersten Interesse reagierten und die Erzieher ihre Emotionen nicht wirklich vor Dir verstecken konnten.Wie das Wort  „Kacke“ bei uns unweigerlich salonfähig wurde, nahm auch das Wort „Penis“ Einzug in den Wortschatz der Kindergartenkinder und stieg in der Beliebtheitsskala auf Stufe 1. Es gab einfach keine Möglichkeit Dir und Deinem Lieblingswort zu entkommen. Notfalls hast Du Dir das Gesicht des peinlich Berührten geschnappt. Es mit beiden Händen in Deine Richtung gedreht, um dann nochmals laut, deutlich und mi tlangezogenem, genussvollenem „P“ das verbotene Wort zu wiederholen. Ich glaube für die Kinder war es eine gute Lektion in „wie rede ich frei über Sexualität“. Die Eltern jedoch waren da ganz anderer Meinung. Um Dich, aber auch um mich machten sie einen großen Bogen. Ich vermute, dass Du kleiner Straßenköter nicht in die Gruppe der absoluten Rassehunde passtest.

Das es sich hier aber nur um u7nser kleinstes Problem handelte, stellte ich später fest. – Es gab ein Ereignis, dass bei uns in der Praxis zu weitaus schlimmeren Folgen führte:

An einem Abend wollte ich Deinen Vater zusammen mit Dir und Sacha von der Praxis abholen. Er war noch nicht ganz fertig und wir setzten uns ins Wartezimmer. Dort bekamen wir Besuch von dem dort arbeitenden Hausmeister mit seinem kleinen Sohn. Es entwickelte sich eine Art von Kriegenspiel zwischen Sacha und dem kleinen Jungen. Angesteckt von dem Spaß, den die beiden hatten, nahmst auch Du daran teil. Ihr lachtet, lieft hin und her und plötzlich tickte der Kleine Dich ungewollt sehr heftig an, so dass Du Dein Gleichgewicht verlorst und vorwärts ohne Stützreflex auf den harten Fußboden fielst. Dieser Fall war derart stark und stand in keiner Relation zu dem Antick. Es war die Folge Deiner Körperbehinderung. Denn nicht nur das Du eine sensorische Integrationsstörung hast, nein hinzu kommt die cerebrale Ataxie, die Dir die Standfestigkeit Deiner Beine nimmt und verhindert, dass Dein Stützreflex rechtzeitig reagiert. Fast hatte ich vergessen, dass Du auch hier unglaubliche Defizite hast. Ein kleiner Windstoss kann schon dazu führen, dass Du Dein Gleichgewicht verlierst. Ich vergaß, wieviel Kraft und Anstrengung Du aufbringen mußt, um Dich auf den Beinen zu halten.  Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Die ganze Zeit hatte ich mich auf Deinen Autismus konzentriert und dabei ganz vergessen, dass auch Deine körperliche Beeinträchtigung einen großen Platz in Deinem Leben hatte. – Ich hob Dich auf und in Deinen Augen sah ich nur Schmerz und Enttäuschung, aber nicht eine Träne und nicht ein Schrei des Schmerzes, der aus Deinem Mund kam. Ich kann nur mutmaßen, aber ich glaube, dass Du genau gefühlt hast, wie verletzlich und hilflos Du bist. Die Folge darauf war, dass jedes Kind, dass in etwa Deine Größe hatte und in Deine Nähe kam, sofort festgehalten hast und Dich weigertest, es los zu lassen. Egal wo, beim Einkaufen, auf dem Spielplatz, mitten auf dem Fußgängerweg oder im Kindergarten. Da Außenstehende Dein Verhalten missdeuteten und uminterpretierten, kam es zum Teil zu sehr heftigen Auseinandersetzungen mit völlig verschreckten Eltern.

Die Spirale fing an, sich hoch zu drehen. Die Kinder hatten Angstvor Deinem festen Griff , wehrten sich, schlugen Dich und Du fingst an, zu beißen und in die Haare zu ziehen. Nicht lange, dann fingst Du an gleich zu beißen und in die Haare zu ziehen, anstatt fest zu halten. Das weckte verständlicherweise den Unmut der Eltern. Ich bekam unterdessen den ganzen Zorn und die unbändige Wut über Dein Verhalten zu spüren. Haß und Aggression prasselten auf mich nieder, als dann eines der Kinder mit einer Bißwunde aus dem Kindergarten nach Hause kam. Nun war auch das letzte Fünkchen Verständnis einem Behinderten gegenüber verflogen.

Ein außerordentlicher Elternabend wurde einberufen und ich mußte mich auf die Anklagebank setzen. Ich sollte zu den Vorwürfen Stellung nehmen.

Dieser Abend lag mir zentnerschwer auf meiner Seele. Außer Julia, meine Bekannte, hatte ich niemanden an meiner Seite. Von Gerd war ich schon so weit entfernt, dass er helfen konnte, noch sollte. Mein erster offizeller Auftritt als Mutter einesnautistischen Kindes. Meine Knie zitterten und ich war so unsicher und hatte Angst, dass meine Stimme versagt.

Ich hielt meinen Vortrag. Erzählte alles was ich über Dich wußte. Machte keinen Hehl daraus, dass ich Verständnis für das Entsetzender Mutter hatte, deren Kind richtig von Dir gebissen wurde. Alles von dem  war mir persönlich sehr peinlich, unangenehm und ich hatte selbst solche Erfahrungen noch bisher nicht gemacht.  Nur – ich wollte nicht, dass Du für eine wilde Bestie gehalten wirst. Du delbst warst doch der mit den größten Ängsten. Dein Verhalten war das Resultat Deiner eigenen Unsicherheit und Hilflosigkeit. Es ist natürlich nicht angebracht die Lösungsformel aus zu rufen „wenn Domenik kommt, lauft kreischend weg“.

Ich war am Ende meines Vortrages schweißgebadet und setzte mich erschöpft hin. Atmete tief durch und merkte, dass ich mich völlig entblößt fühlte, als einzige in der Runde splitterfasernakt.

Eine Frau, die mir schon länger als angenehm und sympathisch aufgefallen war, stand auf und bestätigt alles, was ich hier vorgetragen hatte. Sie ist Mutter einer autistischen Tochter, viel älter als, Domenik und hätte zu allem was ich erzählte eine eigene Geschichte hinzufügen können. Sie bat nochmals um Verständnis und regt an, gemeinsam zu überlegen, wie wir Dich aus dieser schrecklichen Sitution heraus helfen können. Das es die Aufgabe gera,  dieses Kindergarten wäre ein so schwaches Glied wie Dich, zu unterstützen und einzugliedern.

Wir versuchten gemeinsam einen Weg zu finden. Eltern, Kinder und Erzieher wollten sich daran beteiligen, anstatt Dich gleich aus dem Kindergarten zu entlassen.

Alle gaben sich redlich Mühe und ließen keine Möglichkeit unversucht. Immer, wenn ich von der Arbeit zum Kindergarten fuhr, um Dich abzuholen, bettete ich inständig “ bitte, lieber Gott, lass‘ Domenik nicht wieder ein Kind gebissen haben“. Je weniger Du Anstalten machtest, auf die Kinder normal zu zugehen, je mehr Vertrauen hatten Kinder und Eltern zu Dir. Ich selbst bestach Dich mit Süßigkeiten für jeden Tag  „nicht gebissen zu haben“ und langsam trugen unsere Versuche Früchte. Die dunklen Wolken verschwanden langsam und der blaue Himmel der Zuversicht und Zufriedenheit wurde sichtbar.