Domeniks Geschichte

Kapitel 1

Sonntagabend, der letzte Tag  der Weihnachtsferien. Mir ist nach Tanzen, Jubeln und Singen. Ich habe es wieder einmal geschafft. Morgen früh kommt Domeniks Bus und fährt ihn in die Schule. Bis 15.30 Uhr habe ich wieder Zeit für mich. Fünf Tage die Woche. Endlich ein bißchen Ruhe!

In den letzten Jahren habe ich mir jedes Ferienende sehnlichst herbeigewünscht. Wie oft hatte ich schon gedacht, daß diese Ferien die anstregendsten waren. Wer kann schon nachempfinden, daß gerade die Feiertage so schwer zu überstehen sind?

Vierzehn Tage vor dem Schulende hat Nike eine dicke Erkältung bekommen, so daß ich ihn für eine Woche zu Hause lassen mußte. Ja, und dann erwischte es auch mich kurz danach und ich mußte das Bett hüten. Am Donnerstag vor Heiligabend habe ich mich langsam wieder hochgerappelt, denn Samstag war Heiligabend und ich mußte noch Geschenke und Lebensmittel für die Feiertage einkaufen. Es fiel mir diesmal ausgesprochen schwer. Ich war völlig kraftlos, aber es mußte sein , außer mir war niemand da, der es hätte erledigen können.

Aus weiser Voraussich kaufte ich nur ein Geschenk für Domenik und für Heiligabend und die Weihnachtstage lud ich nur wenige, gute Freunde ein. Das Feiern verlegte ich auf den späten Abend, damit Nike wenig Aufregung hatte, aber sein Bruder Sacha totzdem zu seinem Recht kam. Denn das hatte ich gelernt, es folgt Sylvester und davor kann ich Dich kaum schützen. Das Knallen ist in jedem Zimmer zu hören und ich wußte, wie sehr Nike dadurch irritiert wurde.

Wie lange brauchte ich, um das alles zu lernen? Wie lange brauche ich noch um ihn ganz zu verstehen?

Domenik – dieser Name steht mittlerweile bei vielen Menschen als Markenzeich für eine besondere Art von Verhaltensweisen und für ein spezielle Art von Sprache.

24. September 1979 – Domeniks Geburtstag. Der Tag an dem sich mein Leben mit einem Donner-,  Pauken-,  Hammerschlag veränderte. Ich lernte von diesem Tage an, daß keine Regel, keine mir bekannte Vorstellung von Leben mehr Bestand hatte.

Morgens gegen sech Uhr setzten die Wehen ein. Ich wußte genau, daß ich noch Zeit hatte. Ohne es mir anmerken zu lassen, ließ ich Gerd, meinen Mann, aufstehen und Sacha vor der Arbeit in den Kindergarten bringen. Gegen zehn Uhr stand ich dann auf und frühstückte um anschließend den Termin bei meinem Frauenarzt wahzunehmen. Anschließßend fuhr ich noch kurz auf einen Kaffee bei meiner Mutter vorbei. Auf dem Nachhauseweg überlegte ich noch, was ich mir gutes zum Essen machen könnte, denn am Abend würde es für mich nichts mehr geben. Während ich aß rief ich bei Gerhard auf der Arbeit an um ihm mitzuteilen, daß es demnächst mit der Geburt losgehen würde. Er sollte Sacha vom Kindergarten abholen und ich benachrichtigte meine Mutter. Allmählich nahm die Stärke der Wehen zu also rief ich bei einer Freundin an,  um mich abzulenken.

Gegen 18.00 Uhr waren alle beisammen und ich versuchte mit Sacha zusammen ein wenig Sesamstraße zu gucken um die Wartezeit zu überbrücken. Ich wollte einfach nicht zu früh in der Klinik sein. Zu Hause war es entspannter und die Klinik war auch nur 5 Minuten mit dem Auto von uns entfernt. Natürlich mußte ich irgendwann doch los, aber ich konnte den Zeitpunkt hinauszögern. Als die Wehen stark und in sehr kurzen Abständen kamen, drängte es auch mich in die Klinik. Die üblichen Formalitäten wurden erledigt, aber als ich dann die Frage nach den Wehenabständen m it drei Minuten beantwortete, brach eine entsethliche Hektik aus. Von Weitem hörte ich eine Schwester schreien, daß keine Zeit mehr für einen Einlauf und Rasieren sei. Mir wurden die Kleider förmlich vom Leib gerissen und schon war ich im Kreissaal. Gerd immer hinterher, denn er wollte bei der Entbindung dabei sein. Ein junger Arzt kam auf mich zu, sah mich an und verkündete Gerd, daß er mir eine Rückenmarkspritze geben wollte. In meinem Kopf lehnte sich alles dagegen auf, jedoch kam es zu Keinem NEIN. Sie legten mich auf die Seite, ich spürte einen Einstich, irgendwo in meiem Bein entstand ein Kribbeln unddan hörte ich den Arzt stöhnend sagen: “Was ist denn das, sind sie Sportlerin?” Hast du ne`Ahnung, dachte ich, ich habe seit Jahren keinen Sport mehr getrieben. Er resignierte, zog die Spritze wieder heraus und brummte irgendwas unverständliches vor sich hin. Dann lag ich angerichtet und serviert auf dem Bett. Ein Schwarm von weißgekittelten Menschen um mich herun . Von vorn kam noch eine Ärztin dazu, Wortfetzen, Schreie (von mir) treten nach der nächstbesten Möglichkeit, dann ein kluger Ratschlag: “Anhalten, anhalten!” Schon war es geschehen. Es war geschafft, vollbracht, vollendet. Ich sah nach hinten und bemerkte, daß sich meine Hand in die von Gerd verkrallt hat und entdeckte Freudentränen in seinem Gesicht. “Ein Junge! Gitte es ist ein Junge!” Mein Kopf wandte sich in die andere Richtung und ich hörte einen kräftigen Schrei. Da sah ich ihn. Blutbeschmiert, winzig, aber deutlich als Mensch zu identifizieren. Nun wurde er gewaschen, gewogen, gemessen und mir sodann auf den Bauch gelegt.

Willkommen auf dieser Welt. Nicht schön, eher witzig. Ein winzigkleines Menschenkind mit breiten Mund und beachtlich großen Händen und Füßen – und gesundem Appetit. Er hat sofort an meiner Brust getrunken, als hätte er es schon immer gkonnt. Ich sah Gerd an, wir sahen den Winzling an und mir fiel nichts anderes ein als –   Fröschchen- . Mich durchfloss ein derart warmes Gefühl, daß ich kaum etwas anderes wahrnahm, als ihn.

Die Realität jedoch rief mich schnell zurück. Es setzte ein geschäftiges Treiben ein. Er wurde untersuch und ich sollte aufs Zimmer um mich ein wenig zu erholen. Schnell wurde ich aus dem Kreissaal gefahren, Gerd winkte  freudestrahend und erleichtert. Mein Fröschchen befand sich sodann  in den Händen der Jury.

Wir blieben fünf Tage im Krankenhaus. In dieser Zeit kamen wir uns ein wenig näher. Mein Fröschchen war die Attraktion dort. Zum 1.: Wegen seiner etrem großen Hände und Füße, die jeder unbedingt sehen wollte. Zum 2.:  Sein Kommen kündigte er derart lautstark an, dass das gesamte Krankenhaus von dem Geschrei wach wurde. Zum 3.: Unter den Säuglingen war mein Kind das weitaus Gefräßigste. Keine Nacht verging, in der er nicht nochmals aufgetankt werden mußte.

Am Tage unserer Entlassung war strahlend schönes Wetter.  Mein Sohn, der mittlerweile nach langem hin und her endlich den Namen  Domenik bekommen hatte, lag warm eingepackt in meinem Arm und mein Mann und mein Sohn Sacha holten uns von der Klinik ab. Ich freute mich, Domenik sein Zuhause zu zeigen. – Jede Mutter weiß, ein neues Familienmitglied bringt das Leben und den Rhythmus erst einmal durcheinander. Aber Domenik nahm das Steuer so fest in seine großen Hände, dass un Hören und Sehen verging.

Er hat nicht geschrien, er hat gebrüllt. Er hat nicht getrunken, er hat gesoffen. Er hat nicht gepinkelt, sondern es ergossen sich Sturzbäche in seine Windeln und ertränkten alles, was sich unter ihm befand.

Für Domenik gab es nur einen Zustand in dem er sich wohlfühlte. Auf meinem Arm. Jeder Versuch, ihn hinzulegen, wurde mit lauten Gebrüll zunichte gemacht. Selbst wenn er sanft und selig eingeschlafen war, gelang es mir nicht, wie vorsichtig auch immer ich es versuchte, ihn ins Bett oder auf Sofa zu legen. In dem Moment, indem ich den Körperkontakt unterbrach, schrie er aus Leibeskräften, so dass ich ihn schon vor lauter Schreck wieder hochnahm. – Also trug ich mein Kind fast ununterbrochen in einem Tuch vor meinem Bauch.

Keine Tätigkeit, die ich ohne ihn verrichtete. Kochen, waschen, putzen, bügeln, mein Fröschchen war immer dabei. Selbst auf die Toilette nahm ich ihn mit. Es war leichter, mit ihm vor meinem Bauch meine Geschäfte zu erledigen, als sein Geschrei zu ertragen. Beim Duschen mußte ich gezwungenermaßen unsere Nabelschnur durchtrennen – und das hatte Folgen! Fünfzehn Minuten duschen kostete ungefähr eine halbe Stunde Nervenstrapaze. Bis er sich endlich beruhigt hatte, das dauerte! Schlafenlegen ear die härteste Übung des gesamten Tages. Meist kapitulierte ich und ließ es zu, dass er sich in den Schlaf brüllte. Sobald er morgens jedoch die Augen öffnete, schreckte sein Wehgeschrei die gesamte Familie Spitaler aus den Betten.Wir brauchten lange Zeit keinen Wecker.

Das alles war sehr anstrengend und zerrte an den Nerven, abernatürlich am meisten an meinen. Gerd war glücklich, dass er zur Arbeit gehen konnte und Sacha freute sich auf die Ruhe! im Kindergarten.

Mit etwas List und Tücke (oder sagen wir, Verzweiflung macht erfinderischt) fiel mir eine Lösung ein, die zumindest dafür sorgte, dass ich teilweise vom Tragen oder vom Lärm befreit wurde. Es gab noch etwas, was Nike liebend gern tat. Das war Trinken. Also bereitete ich ihm ein Flasche mit Kräutertee zu und da er noch nicht imstande war, die Flasche zu halten, umbaute ich den Platz, auf dem er lag mit einer Kissenkonstruktion, die verhinderte, das die Flasche abrutschte oder herunterfiel. Somit hatte ich eine Flaschenfüllung Ruhe und war in der Lage, die kurze Zeit für andere Dinge zu nutzen. Jedoch in dem Moment, in dem er den letzten Tropfen ausgesaugt hatte, ging die Sirene wieder l9s. Jedem im Hause war bewußt, was folgen mußte: Alte Flasche raus, nue Flasche rein und sofort stellte sich die ersehnte Ruhe wieder ein. Leider hatte die Flaschenberuhigung auch ihre Nachteile. Welche Windeln sollten diese Flüssigkeitsmengen auffangen? Mein Gefühl war, dass das was oben rein  ging, unten in doppelter Menge wieder heraus kam. Keine Weindel blieb ungetestet. Jede erdenkliche Kombination wurde ausprobiert. Alle versagten. Mein Frosch stand ständig unter Wasser. Die Waschmaschine lief heiß. Die Wäscheleinen äächzten unter ihrer Last und die Windeleimer waren außerstande, diese Mengen auf zu nehmen.

Auch das ghörte allmählich zum Alltag. Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben. Langsam kehrte Routine ein bei Familie Spitaler.

Domenik entwickelte sich prächtig. Er wurde kräftiger und geschickter. Bald konnte er die Flasche selber halten. Es gelang ihm, sich vom Bauch auf den Rücken zu drehen und umgekehrt. Das machte ihn unabhängiger  von mir und er wurde etwas ruhiger und zufriedener. Wir hatten eine Weile Atempause. Redlich verdient. Hat er das mitbekommen? Denn mitten in diese Ruhe kam überraschend eine neue Aktion.

Eines Abend, wir lagen entspannt vor dem Fernseher. Domenik auf seiner Decke auf dem Bauch, seinen Ball im Blick. Da geschah das Ungewöhnlicher. Er hatte sich wohl vorgenommen, den Ball zu erreichen. Er stützte sich auf die Arme, zog ein Bein an, wankte und zog dann das zweite Bein nach, sodass er sich in Krabbelposition befand. Mir stockte der Atem. Er war gerade knappe 3 1/2 Monate alt. Unbemerkt für ihn stieß ich Gerd an und machte ihn auf diesen Anblick aufmerksam. Nur starrten wir ihn beide wie gebannt an. Aber Nike war in seinem Vorhaben so vertiefst, dass er unsere Spannung nicht bemerkte. Einen Augenblick später hat er sich nach vorne fallenlassen und stupste dabei durch diese Bewegung den Ball vorwärts. Sichtlich begeistert von dem Gelingen hat er entschieden, das Ganze nochmals zu wiederholen. Auf die Arme stützen, ein Bein vor, das zweite Bein nach und fallenlassen. So gelang es ihm das Zimmer im Schneckentempo zu durchqueren- und uns wieder in heilose Aufregung zu versetzen.

Im Nu wurde das Fallenlasssen abesetzt und statt dessen schob er sich mit dem zweiten Bein nur vorwärts. Hierdurch erreichte Nike eine unglaubbliche Geschwindigkeit. Kein Platz in der Wohnung, den er nicht erreichen konnte. Wir mußten alles wegräumen, das empfindlich oder gefährlich für ihn war. Ecken mußten ausgeräumt werden, Möbel verrückt,  damit er er nicht hängen oder stecken blieb, denn es fehlte der Rückwärtsgang, den gab es noch nicht.

Aus Domenik wurde eine Dampfwalze, ein Wirbelsturm, das absolute Naturereignis. In Sekundenschnelle gelang es ihm, die Wohnung in ein Chaos zu stürzen. Jeder Gegenstand, den seine kleinen Fleischfinger zu fassen bekamen, wurde herausgewühlt, -gerissen -gezogen, -gezerrt und runtergeschmissen. Keinem schenkte er besondere Aufmerksamkeit. Kaum hatte Nike das Objekt seiner Begierde in der Hand, ließ er ihn fallen und beachtete ihn nicht mehr. Viele Dinge, an denen mein Herz hing, lagen auf dem Boden und wurden gleichgültig niedergewalzt. Vor nichts machte er halt. Ich räumte hinter ihm her, vor ihnm weg. Alles was nicht für seine Finger bestimmt war, befand sich oben auf den Schränken, in den Regalen und hinter verschlossenen Türen. Für ihn jedoch war mein Handeln nur eine einzige Herausforderung, denn nun fing Domenik an, sich auf seine kleinen dünnen Beine zu stellen, noch sehr wackelig, aber schon in der Lage, die höher gelegten Gegenstände vor Augen zu haben. Es war unmöglich, ihn unbeobachtet zu lassen, denn seine Phantasie kannte keine Grenzen. Also besorgte ich ein Laufgitter. Hierin wurde Domenik nun in Haft genommen, wenn ich dringend etwas außer seiner Sichtweise erledigen mußte. In seiner “Zelle” saß er dann ungläubig, unglücklich und ungeheuer lautstark schhreiend. Es brach mir das Herz, wenn ich ihn so sah. Deshalb dauerte es nicht lange und die Verzweiflung fand ein Ende. Ein Lauflernstuhl war des Rätsels Lösung. Er gab ihm die Freiheit der Fortbewegung und mir die Sicherheit, das Nike nicht alles erreichen konnte, da der Lauflernstuhl sehr sperrig und nicht ganz so schnell zu bewegen war.