Kapitel 17

Ich verabredete mich mit Andrea zum Kaffeetrinken bei mir, um sie kennen zu lernen und um ein wenig von der Geschichte der Entstehung der Praxis zu hören und ganz nebenbei konnte sie sich in meinem häuslichen Umfeld, so zu sagen auf freier Wildbahn, ein Bild von Dir machen.

Eine freundliche, viel Wärme und Ruhe ausströmende Frau begegnete mir, so dass die anfängliche Aufregung sich sofort legte. Es wurde ein ausgesprochen harmonischer Nachmittag und wie bei anderen Besuchern agiertest Du in Deiner gewohnten Art und Weise. Wir unterhielten uns, ich erfuhr viele Einzelheiten und so ganz nebenbei sah sie Dir zu und ging auf Dich ein. Mit einer Engelsgeduld machte sie Deine kleinen Spielchen mit und ich lehnte mich entspannt zurück, da meine Rolle als Vermittlerin nicht gefragt war. Als Du dann endlich im Bett warst, konnte ich meine Neugierde nicht mehr zähmen und löcherte sie mit Fragen. Wer ist Dr. Kneisner? Wieso beschäftigte er sich mit so schwierigen Kindern? Ob er uns vielleicht ein bißchen weiter helfen könnte. Mit stoischer Ruhe beantwortete sie meine Fragen. Erklärte sehr eingehend die Abläufe im menschlichen Gehirn, vom Aussenden eines Befehls durch das Gehirn , bis zur Ausführung durch das jeweilige Körperteil und der dazu gehörigen Wahrnehmnung und Rückmeldung. Das alles in sich aufeinander abgestimmt ist und sobald irgendwo auf der Strecke hin oder zurück eine Störung vorliegt, es zu erheblichen Problemen führt, die schwerte Folgen für die Entwicklung eines Menschen hat.  Gerade der Bereich der Wahrnehmung wird oft zu sehr vernachlässigt bei der Diagnose und deer Therapie. Das Fühlen, das Schmecken, das Riechen, das Sehen das Hören ist ein wesentlich Anteil in der Entwicklung, der, wenn er gestört ist, eine emotionale Bindung nicht entstehen läßt. Hieraus entsteht die sprichwörtliche Bindungsunfähigkeit   von Autisten.

 

Der Tag war gekommen an dem Andrea den Termin für uns vereinbart hatte. Wir warteten geduldig im Behandlungszimmer auf sein  Erscheinen. Du ranntest neugierig hin und her  und nahmst nicht einmal wahr, als der Arzt das Zimmer betrat. Ein relativ kleiner, sehr jugendhaft aussehender Mann mit Cordhose und kariertem Hemd stand vor uns. Ich wollte aufspringen und Dich holen, doch er gab mir per Blickkontakt zu verstehen, dass ich sitzen bleiben soll. Er fragte mich,  entspannt zurückgelehnt, warum ich zu ihm gekommen sei. Mir blieb die Sprache weg. Ich stammelte unsinniges Zeug, völlig aus der Fassung gebracht: „Wir haben einen Termin. Mein Sohn ist behindert. Andrea hätte ihn empfohlen.“ „Ja und?“ Ich presste heraus: „Wir brauchen Hilfe. Ich weiß nicht weiter“. Sätze, die ich sonst noch nie gesagt hatte, erstaunt über mich selbst. Wo kommt das her? Wer spricht denn da? Ich bemerkte plötzlich, wie verzweifelt ich war. Vor diesem Termin hatte ich mir alles was ich sagen wollte zurecht gelegt. Aus meiner Erfahrung mit Ärzten und Therapeuten wußte ich, dass der erste Satz war: Bitte, erzählen sie mir, worum es geht“. Und dann fing ich an, die ganze Problematik zu erzählen. Dr. Kneisner aber drehte sich zu Dir um und beobachtete Dich nur und gab mir zu verstehen, dass ich nicht reden sollte. Er kommentierte Deine Handlungen. Hielt mich zurück, als ich wieder aufstehen wollte, um Dich zu holen. Er folgte Dir. Er verstand Dich ohne Worte. Nahm Dich dann hoch, zog Dich aus und fing an einige Tests zu machen. Ich war verführt, Dich zurecht zu weisen oder ihn auf einige Besonderheiten aufmerksam zu machen. Er aber bremste mich und gab Dir kurze, klare Kommandos. Dein Mund stand währen der Prozedur keine Sekunde still. Jedoch auf keine Deiner Fragen gab er eine Antwort, nur Blicke. Mit aller Gelassenheit der Welt, nahm er Dich bei den Händen, Beinen, setzte Dich hin, stellte Dich auf und ließ Dich wie eine Marionette, hin und her maschieren. Du vollführtes diese Kunststücke brav und ohne Widerspruch. Ich war verwirrt, irritiert und ein wenig verängstigt. Dann durfte ich Dich anziehen und nun war ich an der Reihe. Die Fragen kamen wie aus der Pistole geschossen. Was ich mache? Wie ich lebe? Ob Du in den Kindergarten gehst? Warum nicht? Alles floß aus mir heraus. „Wie schwierig es ist, mit Dir zu leben. Wo sollte ich einen Kindergarten finden? Die Nachbarn beschweren sich, wenn Du schreist. Sacha flüchtet zu Freunden, weil er es zu Hausr nicht aushält. Ich schaffe e nicht mehr, Deinen Wissensdurst zu befriedigen. Ich weiß nicht mehr, ob ich geweint habe, oder ob ich nur kurz davor war“.  Bei keinem Besprechungstermin bin ich so aus der Fassung geraten. Was ist hier los? Wieder eine knappe, kurze Frage: „Willst Du Deinen Sohn weggeben?“ Da war alles zu spät. Ich starrte ihn an, bei mir stieg die Wut hoch. Eine Frage , die mir sooft gestellt wurde. Immer wieder. Von Gerd, von der Amtsärztin, von meinen Eltern, von einigen Freunden. Eine Frage, die mich zur Weißglut trieb. Als ob es keine andere Möglichkeit gäbe. Ich schrie: Nein! Ich will Dich nicht weggeben. Ich will lernen mit Dir zu leben!““Na gut“ meinte er, „dann such einen Kindergarten für Domenik. Was interessieren Dich die Nachbarn und höre auf mit dem Füttern von Informationen. Wieweit willst Du noch gehen. Zum Schluss mußt Du Dir einen Professor ins Haus holenmund auch das reicht irgendwann nicht“. Er hielt kurz inne. Ich schluckt, versuchte zu verdauen. Er begann mir anhand eines eindrucksvollen Bildes Dich zu beschreiben. „Stelle Dir vor, Domenik ist ein Baum. Wenn seine Zweige zu sehr austreiben, trägt er keine Früchtemehr, da die Kraft aus den Wurzeln zu sehr von den vielen Zweigen benötigt werden. Die Äste wachsen ins unendliche, aber sind schwach und dünn. Man muß sie beschneiden, damit sie kräftig werden. Ihr müßt zurück zur Basis und dann langsam neu aufbauen. Beschneide alles, was ins uferlose getrieben ist. Erkläre nichts mehr. Antworte nur noch mit ja und nein, laß Dich auf keine Diskusion mehr ein. Bitte alle, die mit Domenik zu tun haben, sich auch so zu verhalten. Wer das nicht befolgt ist kein Freund von euch. Vermeide den Kontakt zu diesen Personen“. Ich begriff nicht. Sollte ich keine Fragen mehr beantworten? Ich hatte doch zum ersten Mal Kontakt zu Dir. Wenn ich nicht mehr mit Dir reden kann, zerstöre ich diesen. Du wirst schreien, toben. Wie sollte ich das durchhalten? Was richte ich für einen Schaden an? Das ist unmöglich, das schaffe ich nicht. Sprache ist unser Medium. Wenn die nicht mehr stattfindet, was bleibt? Er fragte wieder: „Willst Du mit Domeni leben?“ „Natürlich will ich das!“ Dann findet ihr etwas Neues, worüber ihr Kontakt aufnehmen könnt Probiere es und ihr habt eine Chance“. Er stand auf und verabschiedete sich von uns.Von einer Freundin erfuhr ich von einem Arzt in Hamburg, der sich eingehend mit sensorischen Integrationstörungen befaßt und dessen Behandlungsweise ganzheitlich durchgeführt wurde. Andrea, die in der Praxis als Beschäftigungstherapeutin arbeitete, hatte schon so manche Anekdote von Dir gehört und hatte Interesse, Dich kennen zu lernen. Meine Neugierde wurde geweckt, vielleicht war es eine Chance, alles in einem zu bekommen. Ich war zeitlich sehr eingespannt, mit den Terminen bei der Neurologin, der Beschäftigungstherapeutin, der Krankengymnastin und dem Autismusinstitut. Jeder hatte seinen eigenen kleinen Bereich und seine eigene Wahrnehmung. Mir fehlte die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Therapeuten.